Welches Kompetenzprofil brauchen sie, um Mutter oder Vater zu sein? Müssen sie schon vor der Geburt ihres Kindes alles können? Geht es da überhaupt ums Können? Oder gestatten sie es sich selbst in das Elternsein hineinzuwachsen?
Wir sind Menschen und als solche bringen wir alle Seins-Zustände mit auf diese Welt, die es uns ermöglichen Eltern zu sein. Manchmal werden diese Seins-Zustände aufgrund unserer Lebensgeschichte verschüttet, aber ich bin mir sicher, wenn sie lange genug graben, dann kommen sie auch bei ihnen wieder zum Vorschein. Zu einigen dieser Seins-Zustände möchte ich ein paar Worte schreiben. Dies sind die Liebe, die Offenheit, die Geduld, die Neugierde und das Vertrauen.
Liebe
Sie hatten einen anstrengenden Tag und wollen nur noch eines: ihre Ruhe haben. Die Kinder sollen doch bitte leise sein und sind es natürlich nicht. Der Mann hilft auch nicht mit und liest stattdessen die Zeitung, als ob er der Einzige mit einem arbeitsreichen Tag gewesen wäre. Und überhaupt, kann mal jemand die Unordnung am Boden beseitigen? Das Radio ist zu laut und das Gemüse am Herd ist inzwischen angebrannt. Ihre beiden Kinder streiten lautstark, wer als erstes Essen bekommt und jetzt hat ihr Jüngster auch noch die Schüssel auf den Boden fallen lassen. Dabei haben sie ihren Kindern schon 100 Mal gesagt, dass sie beim Essen sitzen bleiben sollen. Ihr Kind schreit lauthals, ihr Mann sagt anklagend: „Hast du nicht aufgepasst, die Kinder streiten schon wieder!“ Und sie schreien das Kind an, es soll jetzt aufhören zu schreien. Irgendwie ist ihnen jetzt leichter, weil weniger Druck da ist. Doch was haben sie getan? Ihr Kind angeschrien? Müssen sie schnellstens zu einem Coaching? Oder sind ihre Kinder einfach nicht „richtig“ erzogen? Müssten die nicht auf sie hören und leise sein? Ihre Oma würde sagen: „Also zu meiner Zeit hätte es bei Tisch nicht so ein Theater gegeben.“ Nein, weder – noch. Sie sind grantig und das ist ok. Ihre Kinder sind Kinder, sie streiten jeden Tag mehrmals und das lautstark. Sie haben ihr Kind angeschrien. Ja, manchmal passiert uns das. Was sie jetzt brauchen, ist Selbstliebe. Sie haben gewiss viele Stärken und wie jeder Mensch so manch eine Schwäche. Und das darf sein. Liebe fängt mit Selbstliebe an. Eine Mama, die zu sich selbst steht, kann zu ihrem Kind sagen: „Ich bin grantig und deshalb habe ich dich angeschrien. Es tut mir leid.“ Lassen sie sich überraschen, wie verständnisvoll unsere Kinder sind, wenn wir ihnen aufrichtig begegnen. Eine Frau, die gut auf sich schaut, sagt auch zu ihrem Mann: „Ich bin grantig. Mir ist heute alles zu viel. Ich brauche deine Unterstützung.“ Wie die Kinder sind auch wir Erwachsenen nicht immer gut drauf. Sagen sie ihrer Familie wie es ihnen geht und was sie brauchen. Fordern sie das auch ein. Sie meinen, das ist egoistisch? Was lernen ihre Kinder daraus? Aha, so heißt das Gefühl also? Mama hat das auch? Manchmal ist auch Mama grantig und weiß nicht, wohin mit ihrer Wut. Was tut sie, wenn es schiefgegangen ist? Wie kann sie es wieder gut machen? Oft ist meine Mama fröhlich und manchmal macht sie sogar Blödsinn mit uns. Manchmal ist Mama zornig. Manchmal weint Mama auch, weil es Dinge gibt, die traurig sind. Es ist in Ordnung zu weinen. Ihr Kind lernt, dass wir Menschen Gefühle haben und diese zeigen dürfen. Gerade in der Familie dürfen wir so sein, wie wir uns fühlen, ohne Masken. Wir dürfen darauf bauen, dass unsere Familie für uns da ist, mit uns lacht und mit uns weint, unsere Angst versteht und unseren Ärger ernst nimmt.
Offenheit
Sie waren beim neuesten Kurs zum Thema Erziehung und haben dort ein Konzept kennen gelernt von dem sie begeistert sind? Nun wollen sie es natürlich zuhause umsetzen. Der Mann rollt mit den Augen, die Kinder reagieren irgendwie auch nicht so, wie sie sich das vorgestellt haben. Woher kommt das? Enttäuscht resignieren sie, bei anderen mag das ja funktionieren, aber bei ihnen? Was stimmt nicht mit dem Konzept, das sich beim Vortrag so logisch und toll angehört hat? Sollte vielleicht mal der Mann mit zum Kurs, damit sie an einem Strang ziehen? Auf keinen Fall sollte er nicht ihrer Meinung sein, natürlich. In der Welt da draußen sind schließlich auch immer alle einer Meinung und wenn sie es nicht sind, sollten sie dies auf keinen Fall kundtun, sonst… Sonst was eigentlich? Lernen die Kinder dann, wie die Eltern einen Konflikt lösen? Wie sie zu einem Kompromiss finden? Dass es auch ok ist mal anderer Meinung zu sein und dass die Welt dann immer noch steht? Müssen sie jetzt lang und breit mit ihrem Partner diskutieren, ob das Kind den Lutscher essen darf oder nicht? Nein. Könnte es Sinn machen, gemeinsam auszuhandeln, wie viel Taschengeld ihr Kind bekommt? Ja, das wäre eine Super-Chance für ihr Kind gehört zu werden und mitzuverfolgen aus welchen Gründen sie als Eltern zu dieser oder jener Entscheidung kommen. Ist es ok, auch den wildesten Streit vor den Kindern auszutragen, bei dem es um sie und ihren Partner geht? Wohl eher nicht. Könnten sie den Kids sagen, dass sie grantig sind und jetzt mal Zeit mit ihrem Partner allein brauchen? Wäre ein Mittelweg die Spannung zu benennen und die Details trotzdem außen vorzulassen. Sie sind sie und ihr Mann ist ihr Mann und ihre Kinder sind ihre Kinder. Sie sind nicht die Familie XY aus dem Konzept. Deshalb kann das eine für sie gut passen und das andere wiederum nicht. Nur sie und ihre Familie können gemeinsam entscheiden, was für sie passt. Vielleicht schütteln sie heute den Kopf über eigene Verhaltensweisen, die sie vor drei Jahren noch super gefunden haben. Sie haben sich weiterentwickelt und sind zu neuen Erkenntnissen gekommen. Gestehen sie sich selbst, ihrem Partner und ihren Kindern Raum zu, anders sein zu dürfen als die anderen. Die Nachbarskinder schauen kein Fernsehen und Fleisch essen sie auch nicht? Und die Nachbarsmama kocht jeden Tag selbst, während es bei ihnen jeden zweiten Tag schnelle Küche gibt? Na und? Vielleicht essen ihre Kinder dafür nachmittags ausschließlich Obst und in der einen Stunde in der ihre Kinder fernsehen, erledigen sie ihre Sachen und danach haben sie wieder den Kopf frei. Wissenschaftliche Erkenntnisse im zwischenmenschlichen Bereich geben uns Hilfestellungen. Zum Glück sind es keine Anleitungen, wie wir zu leben haben. Das entscheiden sie.
Geduld
Roberta ist schon mit zwei Jahren windelfrei. Und Johann kann schon ganze Sätze reden mit zweieinhalb. Ihre Gisela hingegen kackt mit dreieinhalb noch in die Windeln, Schnuller hat sie auch noch einen zum Schlafen gehen und das mit den ganzen Sätzen, naja sie redet schon, aber den Wortschatz von Johann hat sie trotzdem nicht. Und Anton kann schon Puzzle bauen, während ihre Tochter an denen herumkaut. Sollten sie mal zu einer Sprachheiltherapeutin zur Abklärung oder zu einem Ohrencheck zur Ärztin? Frühförderung vielleicht oder der Yogakurs für Kleinkinder? Vielleicht sollten sie das. Wenn ihre Tochter nicht hört was sie sagen, obwohl sie neben ihr stehen und mit ihr reden. Vielleicht hat Gisela sie aber gehört und will einfach gerade nicht tun, was sie von ihr wollen. Vielleicht ist ihre Tochter einfach Gisela, die mit 3,5 Jahren noch in die Windeln kackt, einen Schnuller hat und nicht so einen großen Wortschatz hat wie Johann. Vielleicht matscht ihre Tochter lieber im Gatsch als Puzzle zu bauen und läuft lieber mit ihrer Freundin Emily um die Wette. Könnte auch sein, dass Gisela beim nächsten Besuch ihrer besten Freundin Emily keinen Schnuller mehr will. Weil Emily hat auch keinen Schnuller und schließlich ist Gisela doch auch kein Baby mehr. Vielleicht kommt ihre Tochter im Herbst in den Kindergarten und irgendwie ist das aufs Klo gehen dort cool und von einem Tag auf den anderen können sie ihren Windelvorrat in der Verwandtschaft verschenken oder zur Carla bringen. Seien sie geduldig mit ihren eigenen Erwartungen. Lassen sie ihr Kind sich in seinem eigenen Tempo entwickeln. Ihr Kind hat Ecken und Kanten und es ist nicht ganz so einfach damit umzugehen? Ja, das ist so. Und manchmal – wenn sie so zurückdenken, erinnert sie das Verhalten ihres Kindes an ihre eigene Kindheit? Was hätten sie sich von ihren Eltern damals gewünscht? Dass die wollen, dass sie gleich sind, wie die große Schwester oder der Nachbarsbub? Wohl eher nicht.
Neugierde
Sie haben ihr Kind in die Schule mit dem besten Ruf gesteckt. Dafür haben sie es extra täglich mit dem Auto eine dreiviertel Stunde gefahren. Zusätzlich haben sie noch einen Nachhilfelehrer und zwei Nachhilfelehrerinnen bezahlt. Irgendwie sind die Leistungen ihres Kindes trotzdem mittelmäßig bis schlecht geblieben. Vielleicht liegt es ja am Lehrpersonal, die sollten doch wirklich mal… Vielleicht wollte ihr Kind aber auch gar nicht in diese tolle Schule. Vielleicht wollte es einfach mit Kurt und Susanne in die Schule um die Ecke gehen. Vielleicht hätte ihr Kind dann weniger oft die Rückmeldung erhalten nicht gut genug zu sein. In der Schule um die Ecke hätte ihr Kind vielleicht spielerisch und mit Freude gelernt und nebenbei sich selbst besser kennengelernt. Vielleicht hätte ihr Kind durch die stressfreie Alternative mehr Ahnung gehabt, wohin die weitere Reise gehen soll und weniger Verunsicherung erfahren. Und so ganz nebenbei, das länger Schlafen wäre sehr cool gewesen und zusätzlich wären sie es nicht gewesen, der täglich im Frühverkehrschaos gesteckt wäre.
Ihr Traum war es Gitarrist zu werden? Und damit ihr Kind endlich die Chance hat, die ihnen nie vergönnt war, haben sie ihren Sohn oder ihre Tochter schon mit 3 Jahren in die musikalische Früherziehung geschickt und Gitarrenunterricht bezahlt. Und jetzt mit 10 Jahren sagt ihr Kind, es will gar nicht Gitarre spielen, obwohl sie es doch so gefördert haben? Dieses undankbare Balg. Ist das schon die Vorpubertät oder was? Oder ist ihr Kind einfach nicht die Bohne musikalisch und hat Null Bock auf Gitarre. Vielleicht will ihr Mädchen lieber dem Schachklub beitreten oder ihr Bub einfach zuhause seine Ruhe haben und Bücher lesen. Seien sie achtsam, was ihre Kinder an Gaben mitbringen. Seien sie neugierig auf ihr Kind. Seien sie neugierig, welche Interessen und Fähigkeiten ihr Kind entwickelt und vor allem, für was es sich begeistert! Lassen sie ihrem Kind Zeit, seinen Weg zu gehen. Lassen sie ihrem Kind die Freiheit, seinen eigenen Weg zu finden.
Vertrauen
Oh mein Gott, ihr Kind ist hingefallen und hat eine blutige Lippe. Haben sie nicht aufgepasst? Was sind denn sie für ein Vater? Ist ihr Kind überhaupt schon alt genug, um allein auf den Kletterturm zu klettern/ die steile Stiege runter zu gehen/ vom Baum zu springen/ im Trampolin zu hüpfen? In XY steht, dass ihr Kind das erst mit YZ Jahren machen darf. Aber vielleicht haben sie zuhause einen Obstgarten und ihr Kind klettert dort jeden Tag. Vielleicht haben sie zuhause ein Trampolin und ihr Kind hüpft dort täglich mit 5 anderen Kindern fröhlich und quietschvergnügt. Vielleicht trifft die Anweisung XY auf ihr Kind nicht zu, weil ihr Kind ihr Kind ist und sie es am besten kennen. Und verdammt noch mal, darf ihr Kind keine Kratzer und Schrammen mehr haben? Darf es nicht mehr in sich spüren und selbst herausfinden, wie hoch es raufklettert? Ob es jetzt wild schaukeln will oder ob es davon kotzen muss? Sind sie auch der Meinung ihr Kind ist gut so, wie es ist? Sind sie auch der Meinung ihr Kind geht seinen Weg? Dann lassen sie es bitte gehen. Ermutigen sie ihr Kind auf die eigenen Schritte zu vertrauen. Und ja, ihr Kind wird hinfallen, wenn es aus eigener Kraft geht. Erinnern sie sich an die ersten Schritte ihres Kindes? An den Stolz in den Augen und die Freude? Und wissen sie was, es ist wieder aufgestanden als es hinfiel und hat es danach gleich wieder probiert. Mit dieser Widerstandsfähigkeit wird ihr Kind geboren.
Fazit
Ist also jedes Erziehungscoaching für nix? Ja, wenn es dabei darum geht, an ihrem Kind herumzudoktern. Nein, wenn es dabei darum geht, in den Spiegel zu schauen, sich selbst kennen zu lernen und kleine Veränderungen in der eigenen Haltung anzustreben. Sie können den anderen Menschen nicht verändern. Sie können aber verändern, wie sie einem anderen Menschen begegnen. Und diese kleinen Schritte, die sie in der eigenen Hand haben, zeigen Wirkung. Ist jeder Vortrag zum Thema Erziehung für nix? Ja, wenn es ihnen dabei darum geht, wie sie ihr Kind am besten Korrigieren können. Nein, wenn es ihnen dabei darum geht Wissen einzuholen. Vielleicht machen sie sich ja Sorgen und die Entwicklung ihres Kindes ist total in Ordnung. Oder aber es gibt tatsächlich Handlungsbedarf. Das Einholen von Wissen und auch der Erfahrungsaustausch mit anderen Eltern, die verschiedene Lebenssituationen positiv bewältigt haben, sind sinnvoll.
Wenn die Frage lautet: „Wie erziehe ich mein Kind richtig?“ dann wird mir innerlich ganz anders. Müsste die Frage nicht viel eher lauten: „Wer bin ich und wer bist du?“ „Was will ich und was willst du?“ Um dann als Eltern Entscheidungen zu verantworten aufgrund des Erfahrungsschatzes den wir den Kindern Voraus haben? Das eine Baby will vielleicht jede Stunde an Mamas Brust trinken und das andere nur alle vier Stunden. Na und? Die Frage lautet, was passt für diese Mama und für dieses Kind? Das eine Kind will grüne Socken anziehen und nicht die blauen, die Papa ausgesucht hat – warum eigentlich nicht? Müssen sie als Erwachsene/r immer das letzte Wort haben? Das andere Kind will zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendessen Mohnnudeln, weil das seine Lieblingsspeise ist. Vielleicht nicht die beste Idee. Spüren sie in sich hinein. Ihre innere Stärke ist da: Klar Nein zu sagen oder einen Kompromiss auszuhandeln oder den Willen des Kindes zu respektieren und Ja zu sagen.
Sie werden bemerkt haben, dass die Seins-Zustände die ich beschreibe, zusammenspielen und ineinanderfließen. Worauf ich hinaus will, es gibt keinen Elternführerschein und das ist gut so. Ist Erziehung also beliebig und wir können nichts lernen? Nein, ganz und gar nicht. Erziehung hat sehr viel mit Beziehung und Gesellschaft zu tun und es gibt Grundbedingungen. Wie die Pflanze bereits in ihrem Samen all ihre Eigenschaften enthält, so kommt auch das Kind vollkommen auf die Welt. Wie die Pflanze ohne Licht, Wasser, Wärme, Luft und Erde nicht leben kann, so braucht auch das Kind bestimmte Bedingungen, um wachsen zu können. Ist es möglich diese Bedingungen in ein Rezept zu fassen? Nein. Wie die eine Pflanze viel Licht und die andere wenig, die eine jeden Tag gegossen werden muss und die andere nur einmal im Monat, so hat auch jedes Kind Eigenheiten und jede Familie ihre besonderen Bedingungen. Es gibt so viele Variationen und Wege, wie es Familien gibt. Gibt es Grenzen? Ja, die gibt es und wir kennen sie alle. Was passiert, wenn auf der Pflanze herumgetrampelt wird oder ihr Grundbedingungen vorenthalten werden? Die eine geht ein, die andere überlebt trotzdem und erholt sich gut, eine andere wiederum überlebt nur mit Ach und Krach und ist stark geknickt. Und dann gibt es Pflanzen die auf nährstoffreichen Boden fallen und erblühen und andere die auf kargem, nährstoffarmen Boden wachsen und sich trotzdem sehr gut entwickeln und eine Stärke mitbringen, die zum Staunen anmutet.
Sich für Kinder zu entscheiden, bedeutet JA zum Leben und zur Veränderung zu sagen, um mit Mut und Zuversicht neue Erfahrungen zu wagen. Vertrauen sie in ihr Gefühl.
Sie spüren es in ihrem Herzen und sie sehen es in den Augen ihres Kindes, wenn sie gerade ein Blatt ihres kostbaren Pflänzchens abgeknickt haben. Und sie spüren ebenfalls in ihrem Herzen, wenn sie ihrem Pflänzchen lebensnotwendigen Raum verschafft haben und es seine Blätter ausrollen und zum Licht emporstrecken kann.