Der Samen und die Frucht
Es war einmal ein Kapitalist, der hörte von einem Saatgut, das reichen Ertrag bringen sollte. Grinsend rieb er sich die Hände und kaufte große Mengen vom wunderbaren Schatz. Dann legte er die Samen in seinen riesigen Tresor. Tag und Nacht wurde der Tresor strengstens bewacht. Eigens aus diesem Anlass stockte der Kapitalist das Sicherheitspersonal auf. Mit Argusaugen wurde jede Regung kontrolliert und die Überwachung eifrig dokumentiert. Keine Maßnahme war dem Kapitalisten zu teuer. Aber die Samen wollten und wollten nicht keimen. Am dritten Tag brachte der Sicherheitschef einen Sack bester Erde von seinem Komposthaufen mit. Aber der Kapitalist winkte geringschätzig ab. Er brauchte doch keinen Mist. Der Sicherheitschef beschloss, sich von nun an nur noch strikt an die Anweisungen zu halten. Schließlich wollte er den gut bezahlten Posten nicht gefährden.
Die Sekretärin, die auf einem Bauernhof aufgewachsen war, suchte am siebten Tag das Gespräch mit dem Kapitalisten. „Vielleicht solltest du den Tresor öffnen, um Licht hereinzulassen“, begann sie. Doch er schnitt ihr das Wort ab und meinte herablassend, sie habe kein Studium vorzuweisen und solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Die Sekretärin wollte ihren Job behalten und wahrte von nun an Stillschweigen. Tage und Wochen vergingen. Nichts geschah. Der Kapitalist wurde wütend und fühlte sich betrogen. Er ging zum Händler und sagte: „Du Lügner, dein Samen ist Schrott.“ Der Händler fragte: „Hast du den Samen gedüngt?“ „Gedüngt? Nein!“ Die Angst fuhr dem Kapitalisten in die Glieder. Kunstdünger. Sofort. Her damit. Er kaufte das ganze Geschäft leer. Und wog seine Investition nun in Sicherheit. Sogleich verabreichte er dem Saatgut eine großzügige Dosis. Nichts geschah. Die Samen sahen sogar schlechter aus als zuvor. Außer sich vor Zorn wandte der Mann sich abermals an den Händler. Dieser hatte in weiser Voraussicht Kunstdünger nachbestellt und verkaufte ihm noch mehr davon. Doch all der Kunstdünger half nichts. Die Samen verschimmelten. Die Ernte war futsch. Der Kapitalist, der sein ganzes Vermögen in das Saatgut investiert hatte, ging Bankrott. Die Sekretärin und die Sicherheitsleute verloren ihre Posten. Der Händler erfreute sich am Gewinn.
Zur gleichen Zeit hatte eine Bäuerin einen kleinen Stoffbeutel voll des kostbaren Samens von einem freundlichen Menschen geschenkt bekommen. Sie legte das Saatgut in fruchtbare Erde, goss die zarten Keimlinge und düngte sie mit dem hauseigenen Kompost. Dankbar betete sie zu Gott. Voll Vertrauen wartete sie. Die Sonne strahlte und die Pflänzchen reckten ihre hellgrünen Blätter dem Licht entgegen. Die Bäuerin pflanzte bekömmliche Gewächse an ihre Seite und freute sich am Gedeihen des Gartens. Ein Maulwurf warf Erdhügel auf. Eine Kröte suchte unter dichtem Blätterwerk Schutz. Da fegte ein Sturm über das Land. Zum Glück waren die Pflänzchen durch die Sträucher an ihrer Seite etwas geschützt. Der Wind hatte nur ein paar geknickt. Langsam richteten sie sich wieder auf. Als der Regen für längere Zeit ausblieb, verwelkte eine Pflanze. Besorgt goss die Bäuerin ihre matt aussehenden Setzlinge, streichelte sie und redete ihnen gut zu. Die Pflanzen erholten sich und viele von ihnen begannen reiche Frucht zu tragen. Nur eine ward von der Sonne zu sehr bestrahlt und verdorrte. Als die Vögel kamen und ein paar Beeren von den Zweigen pickten, lachte die Bäuerin. Es war Zeit für die Ernte. Sie pflückte die bunten Schätze und legte sie behutsam in ihre Weidenkörbe. Da bemerkte sie einen ausgemergelten Mann, der sich an ihr vorbeischleppte und starr auf den Boden blickte. „Guter Mann, komm, setz dich doch zu mir in meinen Garten“, lud ihn die Frau ein. Der Mann erschrak, zögerte und ließ sich dann erschöpft auf der Holzbank nieder. Die Frau nahm seine Hand und drückte sie. Der Mann spürte die Wärme, hob seinen schweren Kopf und sah die Frau scheu an. Sie hielt ihm ein Glas frisches klares Brunnenwasser entgegen. Dankbar trank er und lehnte sich gegen das Holz. Ein Vogel zwitscherte. Der Mann versuchte ein- und auszuatmen. Sein Brustkorb senkte und hob sich kaum merklich. Als sein Blick auf die vollgefüllten Weidenkörbe fiel, verkrampfte sein Herz. „Gute Frau, wie hast du es geschafft, dass dieser Samen Frucht bringt?“, fragte er ungläubig. Sie antwortete: „Es ist nicht der Samen, es ist der Boden, auf den der Samen fällt.“ Da brach der Kapitalist erschöpft zusammen und weinte bitterlich. Die Frau hörte seine Geschichte an und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Nimm die Hälfte von meiner Ernte und versuche es im Frühling nochmal“, ermutigte sie ihn. Der Mann konnte sein Glück kaum fassen. „Ich habe kein Geld. Wieso tust du das?“, fragte er. Die Frau lächelte. „Weil dein Leid auch mein Leid ist. Nimm mein Geschenk an und teile die Frucht.“ Der Mann richtete sich auf, umarmte die Frau, nahm zwei Körbe und ging beschwingten Schrittes davon.